Version vom 19.03.2007
Erstversion vom Juni 2006

Wieso die Ärzte streiken

Waren Sie schon einmal im Krankenhaus? Dann hatten Sie es ziemlich sicher mit einem Arzt oder einer Ärztin zu tun, die 24 Stunden Bereitschaft hatte. Vielleicht auch über zwei Tage hinweg, also 48 Stunden ununterbrochen Dienst. Es ist eine Kuriosität, dass das überhaupt möglich ist, denn eigentlich darf die wöchentliche Arbeitszeit bei allen Arbeitnehmern 48 Stunden nicht überschreiten (laut der europäischen Arbeitszeitrichtlinie), und hier kommt ein Arzt schon innerhalb von zwei Tagen auf diesen Wert. Bei einem – sagen wir mal – Arbeiter im Gepäckraum einer Fluggesellschaft würde so eine Situation ziemlich sicher sehr schnell zu einem Streik führen und in geregelten 38,5 Stunden pro Woche enden. Wieso nicht bei Ärzten? Nun: Weil sie es selbst nicht anders wollen. Bisher zumindest.

Bei einem etwas genaueren Blick auf den Ärzteberuf fällt ohnehin eine erstaunliche Leidensfähigkeit auf. Um überhaupt einmal dahin zu kommen, als Arzt arbeiten zu dürfen, muss man sehr lange studieren, und zwar nicht irgendein erholsames Studium mit nettem Studentenleben, sondern ein sehr anstrengendes [2] und zudem langweiliges Studium, in dem man von morgens bis abends auswendig lernt, ohne dass dieses reine Faktenwissen wirklich sinnvoll auf den nachfolgenden Beruf vorbereitet.[3] Um hierfür überhaupt zugelassen zu werden, muss man einer der besten Schüler gewesen sein oder sehr viel Geld für ein Studium im Ausland ausgeben. Anschließend arbeitet man spielend 70 Stunden in der Woche mit ziemlich großer Verantwortung für ein Gehalt, das heutzutage kaum mehr dafür ausreicht, ein auch nur kleines Haus zu kaufen. [1] Und wenn wir einmal von Assistenzärzten sprechen (was zwingender Bestandteil der Ausbildung ist), dann war das Gehalt schon immer eher in der Region eines Praktikums, wenn wir es mit den Gehältern von BWL-Studenten vergleichen, die ein wesentlich einfacheres Studium hinter sich haben. Und das in fast unwürdigen hierarchischen Strukturen: Der Chefarzt ist der große Zampano, der schon die Oberärzte in einer Weise herumgescheucht, von der man sich wundert, dass sich gebildete Menschen so etwas gefallen lassen.Ich würde es mir nicht gefallen lassen, und damit haben wir den springenden Punkt: Ich würde deshalb auch nie Chefarzt. Noch nicht einmal Assistenzarzt, weil ich mir schon dabei eine derartige Behandlung verbitten würde. Ich würde noch nicht einmal das Studium abschließen, weil ich dieses unsinnige und stupide Auswendiglernen nicht akzeptieren würde. Aber ganz offenbar gibt es Menschen, die dies alles in Kauf genommen haben, um Arzt zu werden.

Warum tun sich die Ärzte das an?

Und warum? Natürlich, weil sie alle das große Ziel vor Augen sehen, das Sie vermutlich auch vor Augen haben, wenn Sie an Ärzte denken: Nämlich den reichen niedergelassenen Arzt, der im Monat 30.000 Euro verdient und in einer modern strahlenden Praxis residiert, die er für ein Vermögen verkaufen kann, wenn er sich zur Ruhe setzt. Und der ein bewundertes Mitglied der Gesellschaft ist, weil er so wohlhabend ist und so viel weiß. Wir denken auch an den Chefarzt, der ebenfalls genug verdient, um sich eine große Villa im Taunus leisten zu können, der seine Kinder auf eine Privatuniversität in England schickt und einmal jährlich in seinem Urlaub in ein Dritte-Welt-Land fliegt, um den Allerärmsten wenigstens ein klein wenig medizinische Versorgung zu geben.

Das ist das große Ziel, für das es sich durchaus lohnt, Entbehrungen in Kauf zu nehmen. Auch über lange Zeit. Der Haken: Die Entbehrungen sind keine Garantie für das große Los. Um noch genauer zu sein: Wie jeder Lotteriegewinn ist auch dieser sehr selten. In der Spieltheorie kennt man die entstehende Situation als „Zermürbungskrieg“, manche nennen es Rattenrennen, und Unternehmen kennen eine ähnliche Situation als Patentrennen.

Das Spiel funktioniert so: Es gibt einen sehr großen Preis, den derjenige bekommt, der am Ende noch im Spiel ist. Aber es geht um alles oder nichts; der große Preis kann nicht aufgeteilt werden. Es gibt keine halben Chefarztstellen. Jeder bleibt so lange im Spiel, bis er einmal „zuckt“ – nach dem ersten Zucken fliegt man heraus. Das Zucken muss man sich hier so vorstellen, dass der betreffende Kandidat aufmuckt (also das macht, was ich schon während des Studiums getan hätte), danach zum Beispiel nur noch „normale“ Arbeitszeiten hat, dafür aber auch nie mehr Chefarzt wird. Oder dass er einfach geht und sich einen anderen Job sucht, wobei das als Arzt nicht so einfach ist. Das ganze wird über viele Perioden (Jahre) hinweg gespielt, solange bis der Chef oder ein niedergelassener Arzt in Pension geht. Dann wird unter den verbleibenden Bewerbern gelost und wir haben einen neuen Chef oder freien Arzt (ein schönes Wort in diesem Zusammenhang, nicht wahr?), der dann den großen Preis gewonnen hat. Allerdings ist der Weg dorthin nicht billig: Jeder Bewerber muss ständig, solange er im Spiel ist, eine gewisse Gebühr zahlen, indem er sich vom Chefarzt erniedrigen lässt und schlecht bezahlt wird; diese Gebühr fürs Mitmachen kann er nur beseitigen, indem er „zuckt“, also ausscheidet.

Der Zermürbungskrieg

Ich sage Ihnen einige Zeilen weiter unten, wie sich die Ärzte bisher verhalten haben, aber zuvor verrate ich Ihnen noch eine andere Lösung, die für die Ärzte eigentlich ideal gewesen wäre, die aber ziemlich kurios ist und die so wohl kaum zustande kommen dürfte. Aber als theoretische Schrulle ist sie vielleicht ganz interessant. Diese Lösung des Spiels besteht darin, dass die meisten Spieler (also Ärzteanwärter) immer sofort aufgeben und nur eine kleine Zahl immer durchhält. Aufgeben heißt: Sie treten erst gar nicht ins Rennen ein, studieren also gar nicht erst Medizin. Damit das funktioniert, müsste es nur eine allgemein akzeptiertes Erkennungszeichen geben, das diejenigen tragen, die im Spiel bleiben dürfen. Interessanterweise kommt es überhaupt nicht darauf an, worin dieses Zeichen besteht, es muss nur eindeutig sein und die richtige Zahl von Bewerbern auserwählen. Zum Beispiel könnten es einfach all die Anwärter mit den besten Abschlussnoten sein, aber ebenso gut diejenigen mit der geringsten Körpergröße. Wichtig ist nur, dass die Rolle von außen vorgegeben ist und nicht im Spiel erworben wird.

Aber es ist unwahrscheinlich, dass es exakt so kommt, denn es ist nicht ganz einfach, das Koordinationskriterium zu finden. Viel wahrscheinlicher ist es, dass die großen Bewerber es einfach nicht akzeptieren werden, dass die kleinsten immer im Rennen bleiben dürfen – zumal dies ja nicht nur ein unsinniges Kriterium ist, sondern auch noch eines, das die Bewerber selber anwenden und nicht etwa der Arbeitgeber. Deshalb ist es sehr wahrscheinlich, dass sich eine symmetrische Lösung herausbildet, in der alle das gleiche Recht für sich in Anspruch nehmen, bis zum Ende durchzukommen. Bei dieser Lösung bleiben alle trotzig im Spiel und scheiden nach und nach zufällig aus (technisch gesprochen ist das eine gemischte Strategie). Die Wahrscheinlichkeit, die diesem „zufälligen Ausscheiden“ unterliegt, muss gerade so gewählt sein, dass es für jeden Einzelnen im Erwartungswert egal ist, ob er im Spiel bleibt oder ob er ausscheidet.

Im Resultat werden dann exakt so viele Anwärter in der Warteschlange stehen, dass für jeden einzelnen die erwarteten Kosten des Wartens gleich hoch sind wie der erwartete Gewinn, wenn er durchkommt. Interessanterweise hat also jeder einen Erwartungswert von null. Dieser niedrige Erwartungswert kommt zustande, weil alle so lange warten müssen und die Kosten des Wartens so hoch sind, oder anders formuliert: weil man in der Warteschlange ausgebeutet wird. (Machen Sie sich keine Sorgen um den Wert von null: hierin ist ein der Ausbildung entsprechendes Gehalt schon enthalten. Dieser Zahlenwert heißt nur, dass man als Arzt eben nicht mehr verdient als wenn man einen anderen Beruf gleicher Qualifikation ergriffen hätte, auch wenn es anders aussieht, wenn man seinen Blick nur auf diejenigen Ärzte richtet, die ganz oben in der Nahrungskette stehen.)

Diese Wahrscheinlichkeit, mit der sie das tun, ist nicht ganz einfach auszurechnen; genauer gesagt, es ist ziemlich schwierig, besonders wenn man etwas ganz anderes studiert hat, wie zum Beispiel Medizin und nicht Wirtschaftstheorie (obwohl es ja glücklicherweise ein gutes Spieltheorie-Buch zu diesem Thema gibt). Aber wenn derartige Systeme längere Zeit bestehen, dann lernen die Beteiligten normalerweise die theoretische Lösung durch Erfahrung, vorausgesetzt natürlich, die Rahmenbedingungen bleiben längere Zeit konstant. Im Resultat werden zu viele Bewerber in die Warteschlange eintreten und dann zwischendurch häufiger ausscheiden als bei der Lösung oben. Beim Erwartungswert von null bleibt es zwar, aber es gibt eine recht stabile Warteschlange von Chefarzt- und Niederlassungsarzt-Anwärtern, die so groß ist, dass viele der Anwärter es nicht bis zum Chef schaffen.

Nun hat sich aber die Welt aber geändert, und es kam die Gesundheitsreform, mit der Folge, dass es viel weniger lukrativ ist, ein niedergelassener Arzt zu werden. Folge: Die Parameter ändern sich, und die Warteschlange sollte viel kleiner werden. Das wurde sie aber bisher noch nicht, weil deren Größe ja aufgrund der Erfahrung mit den alten Rahmenbedingungen zustande gekommen ist. Mitten im Geschehen merken nun immer mehr Anwärter, dass der große Preis nicht mehr so lukrativ ist wie zuvor. Wenn das aber so ist, dann ist das vorzeitige Ausscheiden aus dem Rennen auf den großen Preis (der nicht mehr so groß ist) auch nicht mehr so schlimm – und die Ärzte mucken auf. Genau das sehen wir in Form des Streiks.

Die Politiker, die die Einkommen der niedergelassenen Ärzte in der Vergangenheit beschnitten haben, dachten, sie könnten damit einfach Geld sparen. Aber sie haben die Folgen an anderen Stellen im System übersehen. Denn mit ihren Maßnahmen haben sie den Hauptgewinn im Rattenrennen der Krankenhausärzte weggenommen – und damit deren Bereitschaft, sich ausbeuten zu lassen. Es gibt eben nichts gratis.

 

 

PS: Falls Sie Arzt sind oder gerade werden wollen: Kopf hoch! Vielleicht sieht es auf lange Sicht wieder viel besser aus als es jetzt scheint. Über solche zyklischen Entwicklungen werde ich demnächst auch noch ein wenig schreiben.

 

PPS: Falls Sie gar kein Mediziner sind – freuen Sie sich nicht zu früh. Ein Leser schrieb: „Außerdem trifft Ihre Betrachtung auch auf viele andere Bereiche außerhalb der Medizin zu, so z.B. auf die Verteilung von Professorenstellen (auch an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten) oder die Partnerstellen in großen Unternehmensberatungen (in denen neben BWLern auch Mediziner arbeiten), die mit denjenigen Bewerbern besetzt werden, die zuvor am härtesten gearbeitet und nicht „gezuckt“ haben.“ Das sehe ich genauso.

[1]  Wenn Sie einmal sehen möchten, wie die Ärzte es selber darstellen, dann klicken Sie hier. Da dies von der Ärztegewerkschaft stammt, ist es natürlich ein wenig einseitig, aber die reinen Fakten stimmen zunächst einmal.

[2] Sie glauben es nicht? Die 17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes zeigt, dass der Studienaufwand für Human-, Zahn- und Tiermedizin durchschnittlich 43 Stunden pro Woche beträgt. Zum Vergleich: in Wirtschaftswissenschaften sind es nur 33 Stunden. (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2004: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2003 – 17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System, Bonn, Berlin, S. 256.) Falls Sie 43 Stunden Studium pro Woche nicht viel finden, sind Sie vermutlich Mediziner. Denn das ist immerhin ein Drittel mehr als BWLer, die bereits behaupten, unter der Last des Studiums fast zusammenbrechen. Und als Einstiegsgehalt meist mehr verdienen als Ärzte.

[3] Eine von vielen Zuschriften zu diesem Beitrag lautete: „Ich bin offen für jegliche Betrachtungsweisen der sicherlich prekären Thematik, jedoch hätte ich von einem Professor etwas weniger einseitige Subjektivität erwartet. Ich frage mich insbesondere, wieso Sie behaupten, ein Mediziner habe ein „langweiliges Studium“ zu bestreiten, in dem man nur „von morgens bis abends“ auswendig lernt.“ Ganz einfach: das habe ich von Medizinstudenten, die inzwischen Ärzte sind. Unter Medizinern gibt es folgenden Witz, den man anscheinend schon im ersten Semester lernt: Ein Professor, der eine Vorlesung für viele verschiedene Studiengänge hielt, wollte herausfinden, wieviele Mediziner anwesend waren. Anstatt einfach zu fragen, gab er die Aufgabe, die ersten hundert Seiten des Telefonbuchs auswendig zu lernen. Die meisten Studenten gingen auf die Barrikaden, protestierten und argumentierten. Nur eine Gruppe fragte: „Bis wann müssen wir denn fertig sein?“ Da hatte er die Mediziner gefunden. Und jeder Mediziner, der mir diesen Witz erzählte, fügte hinzu: „Genau so ist’s“.

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