Version vom 09.06.2011
Erstversion vom 23.02.2011

Geschichten über Wahrscheinlichkeiten

Die Bombe im Fluggepäck

Ein junger Mann will nach Übersee und muss daher – zum ersten Mal in seinem Leben – eine Flugreise antreten. Aus diesem Grund ruft er vorsichtshalber bei seiner Versicherung an, um sich nach dem Risiko der Flugreise zu erkundigen. Insbesondere beunruhigt ihn, dass eine Bombe an Bord sein könnte. Die Versicherung sagt ihm, dass das sehr unwahrscheinlich ist, aber die genannte Wahrscheinlichkeit – sagen wir, es sei 1 : 10.000 – erscheint ihm immer noch zu hoch. Zur Sicherheit fragt er auch, wie groß die Wahrscheinlichkeiten dafür ist, dass sich gleich zwei Bomben im selben Flugzeug befinden. Diese Zahl ist nun einfach das Quadrat der vorher genannten Wahrscheinlichkeit, also in diesem Beispiel eins zu 100.000.000. Damit scheint der junge Mann zufrieden zu sein

Einige Wochen später liest der Versicherungsangestellte in der Zeitung, dass man bei einer Gepäckkontrolle am Flughafen im Koffer eines Passagiers eine Bombe gefunden habe. Und weiter: dieser Passagier habe vor dem Untersuchungsrichter beteuert, seine Bombe lediglich zur Verminderung des Risikos mitgeführt zu haben. (Diese Geschichte stammt aus Eigen/Winkler: Das Spiel – Naturgesetze steuern den Zufall, S. 49 und kursiert unter den verschiedensten Varianten als Anekdote, als Witz oder als modernes Märchen.)

Die meisten Menschen sind geneigt, diesen fiktiven jungen Mann für ein wenig dümmlich zu halten. Tatsächlich gibt es aber eine Menge Untersuchungen, die zeigen, dass Menschen in realen Situationen dazu neigen, genau demselben Gedankenfehler zu unterliegen. Auch bei unabhängigen Ereignissen haben wir subjektiv das Gefühl, dass etwas, was ungewöhnlich oft passiert ist, in der Zukunft erst einmal seltener auftreten muss, damit der korrekte Mittelwert wieder hergestellt wird.

Diese Sichtweise ist so verbreitet, dass sie sogar einen eigenen Namen hat: Man nennt es die Gambler’s Fallacy. Der Name kommt daher, dass man dieses Verhalten bei Spielern (gamblers) im Casino oft beobachten kann. Wenn am Roulettetisch zehnmal hintereinander rot gekommen ist, dann kann man sehen, wie sich die Einsätze auf schwarz zu türmen beginnen. Dabei sagt die Wahrscheinlichkeitstheorie, dass die einzelnen Rouletteergebnisse vollkommen unabhängig voneinander sind und es dem Rouletterad egal ist, ob in der Vergangenheit häufiger rot oder schwarz gefallen ist. Infolge dessen bleibt die Wahrscheinlichkeit für rot oder schwarz bei den weiteren Würfen weiterhin bei 50%.

Selbsttest: Sind Sie ein guter Spieler?

Dies alles wissend sehen wir uns die nächste Geschichte an (sie steht zum Beispiel in Nicholas Taleb: Der schwarze Schwan).  Wir spielen ein kleines Spiel, bei dem ich eine Münze werfe. Sie suchen sich aus, ob Sie 100 € auf Kopf oder Zahl setzen. Wenn Sie richtig vorhergesagt haben, dann erhalten Sie den doppelten Einsatz zurück; wenn nicht, dann geht der Einsatz an mich. Vor Ihren Augen habe ich schon ein lange Reihe Probewürfe absolviert, bei denen aber noch kein Geld gesetzt wurde. Ich habe schon 99 mal geworfen und – wie der Zufall so will – zeigte die Münze 99 mal Kopf. Beim 100. Mal sind sie nun an der Reihe zu setzen. Was tun Sie?

  1. Ich setze auf Zahl, weil es extrem unwahrscheinlich ist, dass nochmal Kopf kommt.
  2. Es ist egal was ich tue, weil die Ereignisse bekanntlich unabhängig voneinander sind und daher die Wahrscheinlichkeit für Kopf und Zahl nach wie vor gleich groß ist.
  3. Irgendwie klingen die beiden Antworten von eben falsch, deshalb nehme ich Kopf.

Bitte beantworten Sie die Frage jetzt kurz selbst, bevor Sie weiterlesen.

 

Die häufigste Antwort auf diese Frage ist die Nummer zwei, besonders wenn die Frage direkt im Anschluss an die vorangegangene Geschichte gestellt wird. Interessanterweise ist diese Antwort aber ein typisches Beispiel für eine Antwort aus dem Elfenbeinturm, die weder eine praktische Relevanz hat noch von denkenden Menschen in realen Situation wirklich eingesetzt würde.

Stellen Sie sich einmal vor, wir säßen uns wirklich einander gegenüber und ich würde mehrfach hintereinander eine Münze werfen. Das erste Mal kommt Kopf; das zweite Mal kommt auch Kopf; das dritte Mal kommt ebenfalls Kopf; so geht das weiter, Runde um Runde. Könnte es sein, dass sie beginnen misstrauisch zu werden? Wenn nur zehnmal hintereinander Kopf kommt, dann ist das ein Fall, der mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa eins zu 1000 auftreten sollte. Wenn tatsächlich 99 mal hintereinander Kopf kommt, dann ist die Wahrscheinlichkeit dafür so gering, dass wir die verwendeten Zahlen überhaupt nicht mehr kennen würden: die Wahrscheinlichkeit hierfür beträgt etwa eins zu 0,6 Sextillionen. In einer Vorlesung kann ich Ihnen noch weismachen, dass Sie so etwas „mit positiver Wahrscheinlichkeit“ erleben, aber für Ihr praktisches Leben wissen Sie, dass das nie eintreten wird, wenn es mit rechten Dingen zugeht.

Jeder vernünftige Mensch folgert daher, dass es  wohl nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. Es ist viel sinnvoller, die Hypothese der „fairen“ Münze aufzugeben als an ein derartig unwahrscheinliches Ereignis zu glauben. Folglich würde Sie schon nach nur zehn Würfen die Münze aus der Hand nehmen und einmal nachsehen, was damit nicht stimmt. Und selbstverständlich würde mit dieser Münze irgendetwas nicht stimmen. Sie können Gift darauf nehmen, dass diese Münze ganz einfach zwei Kopf-Seiten hat. So einfach ist das.

Das hier angewandte Schlussverfahren heißt in der Wissenschaftstheorie übrigens Abduktion und steht ein wenig im Schatten ihrer beiden bekannteren Schwestern Induktion und Deduktion. Abduktion ist das, was Sherlock Holmes einsetzt: Er beobachtet ein auffälliges und scheinbar unwahrscheinliches Ereignis. Sodann fragt er nach einer Konstellation, bei der dieses Ereignis keineswegs unwahrscheinlich wäre, sondern auf der Hand liegen würde. Genau so gehen auch Menschen mit gesundem Menschenverstand vor und finden dadurch in der Regel die eigentliche Lösung. Wenn Sie also oben Antwort 3 genommen haben, dann haben Sie nicht nur gesunden Menschenverstand bewiesen, sondern auch die richtige Wahl getroffen. Sherlock Holmes hätte es so gemacht (aber ein Logiker hätte Sie davor gewarnt).

Sherlock Holmes schmuggelt eine Bombe an Bord

Und jetzt denken Sie bitte noch einmal über die erste Geschichte nach. Was genau bedeutet es für die Wahrscheinlichkeit einer Bombe an Bord eines Flugzeugs, wenn Sie selbst eine Bombe im Handgepäck hineingeschmuggelt haben, weil Sie an die Gambler’s Fallacy glauben und mit ihrer eigenen Bombe die Wahrscheinlichkeit für eine zweite verringern wollten?

Die Antwort aus dem Elfenbeinturm lautet, die beiden Ereignisse seien komplett unabhängig voneinander und damit hätte sich die Wahrscheinlichkeit für die zweite Bombe überhaupt nicht verändert. Wenn Sie sich in diesem Augenblick nicht mit abstrakten Gedankenspielen beschäftigen würden, sondern tatsächlich eine Bombe ins Flugzeug geschmuggelt hätten, dann würde ihnen ihr gesunder Menschenverstand aber eine ganz andere Lösung nahelegen: Offenbar ist es wesentlich einfacher, Bomben in das Flugzeug zu schmuggeln, als sie erst gedacht haben. Wenn es Ihnen so leicht gelingt, dann kann es einem Terroristen selbstverständlich ebenso leicht gelingen. Daher ist die Wahrscheinlichkeit für eine zweite Bombe weder eins zu 100.000.000 noch eins zu 10.000, sondern bedeutend höher.

Das ganze gilt übrigens auch andersherum. Wenn es Ihnen nicht gelungen sein sollte, die Bombe an Bord zu schmuggeln, weil Sie bei der Kontrolle erwischt wurden, dann hat das ebenfalls einen ganz erheblichen Einfluss auf eine zweite Bombe an Bord. Die Wahrscheinlichkeit dafür wird in diesem Fall wesentlich geringer sein als sonst: Entweder fliegt nach dieser Aktion das Flugzeug gar nicht ab (dann geht die Wahrscheinlichkeit auf null) oder aber das Flugzeug wird vor dem Start besonders gründlich durchsucht, was ebenfalls dazu führen würde, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Bombe bedeutend niedriger liegt als im Normalfall.

Spieltheorie und Wahrscheinlichkeiten

Was sie hier gesehen haben ist, dass das Konzept der Wahrscheinlichkeit für viele reale Situationen nicht oder zumindest ganz anders anwendbar ist als der Mathestunde. Das liegt daran, dass wir bei Wahrscheinlichkeiten unterstellen, dass sie sich durch unser eigenes Verhalten nicht verändern. Wir sehen hier aber, dass das sehr oft nicht gilt, wenn Menschen beteiligt sind. In dem Flugzeugbeispiel verändern wir durch unser eigenes Verhalten die Wahrscheinlichkeit für eine Bombe an Bord ganz gewaltig, und zwar deshalb, weil diese Wahrscheinlichkeit vom Verhalten anderer Menschen abhängt, und diese wiederum auf unser eigenes Verhalten reagieren. Damit ist aber die Grundannahme nicht mehr gegeben, nach der die Wahrscheinlichkeiten konstant bleiben. Und weil das so ist, wurde die Spieltheorie erfunden.

In der Spieltheorie wird klar, dass das Vorhandensein einer Bombe nicht einfach ein Zufallsereignis ist, ähnlich einem Rouletterad, sondern dass die Bombe sowohl von Menschen hereingeschmuggelt wird als auch von Menschen gesucht wird, die genau das verhindern wollen. Es ist also unsinnig, von konstanten, „gegebenen“ Wahrscheinlichkeiten auszugehen. Vielmehr ist es so, dass wenn die Sicherheitskontrolleure sehr gründlich arbeiten, der Terrorist bemerkt, dass er seine Bombe nicht daran vorbeischmuggeln kann und sich infolge dessen anders verhält. Zwar können auch hier Wahrscheinlichkeiten auftreten, aber oft sind diese von Menschen gewählt worden und verhalten sich somit ganz anders als ein Rouletterad. Wenn man das nicht berücksichtigt, dann wird es teuer.

Wenn Sie jetzt wissen wollen, wie man das berücksichtigt – tja, dann lesen Sie eines dieser Bücher:

Das Spiel zeigt Ihnen, dass die Spieltheorie auch in den Naturwissenschaften am Werke ist und sogar Hinweise gibt, wie das Leben entstanden ist.

Coopetition zeigt Ihnen, wie Sie die Spieltheorie im Geschäftsleben anwenden.

Und wenn Sie ein wenig tiefer einsteigen wollen, dann brauchen Sie mein Spieltheorie-Buch.

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