VW-Abgas-Skandal: Das Auto ist ein rationaler Spieler

Version vom 24.09.15;
Erstversion vom 23.09.15

VW trickst nicht bei den Abgaswerten – sondern baut ein rationales Auto

VW hat eine Software verbaut, die die Abgasminderung nur dann einschaltet, wenn gerade ein Testzyklus läuft. Das ist exakt die Rationallösung zu dem dahinterliegenden Spiel – und wird uns mit Sicherheit noch andere Fälle dieser Art bescheren, nicht nur im Automobilbereich.

Welches Spiel wird hier gespielt? 

Man versteht eine Situation besser, wenn man sie auf ihren Kern reduziert. Im vorliegenden Fall gibt es eine „Inspektorin“, die die Abgaswerte eines Automobilherstellers überprüft (keine Sorge, ich bin kein Genderist, aber meine geradzahligen Spieler sind immer weiblich). Der Automobilhersteller will bei dem Test besonders gut abschneiden und gleichzeitig möglichst wenig dafür ausgeben. Daher optimiert er die Abgaswerte nicht überall, sondern nur an einigen Stellen.

Tun wir aus Vereinfachungsgründen einmal so, als gäbe es nur zwei Stellen, an denen man prüfen bzw. optimieren kann: Stelle A und Stelle B. Das ist keine sehr große Einschränkung, weil das Prinzip auf auf beliebig viele Prüfstellen erweitert werden kann. Das entstehende Spiel sieht dann so aus wie in der folgenden Tabelle. (In der Tabelle stehen immer die Auszahlungen an den Hersteller vorn und an die Prüferin hinten.)

Wenn der Auto-Hersteller dort optimiert, wo er auch geprüft wird, dann erhält er als Auszahlung 1 (also etwas Gutes), weil er die Stelle B an der Prüferin vorbeigeschmuggelt hat. Prüft sie ihn hingengen dort, wo er nicht optimiert hat, dann verliert der Hersteller Geld (symbolisiert durch eine negative Auszahlung von -1), und sie gewinnt eine Beförderung (Auszahlung von 1).

Abgas-Prüferin
Prüft an Stelle A Prüft an Stelle B
Auto-Hersteller optimiert Stelle A (1; 0) (-1; 1)
optimiert Stelle B (-1; 1) (1; 0)

Das ist erst einmal wenig spektakulär, sondern eine Standardsituation in der Spieltheorie: Es ist ein Diskoordinationsspiel, das Sie als regelmäßgier Leser meiner Seite sicherlich auch schon kennen, als ich gefragt habe Wie viele Steuerfahnder braucht das Land? Das dortige Spiel hat prinzipiell die gleiche Struktur, was auch wenig erstaunlich ist, weil dort ein Steuerzahler ein paar Euro am Finanzamt vorbeileiten will, was die Steuerfahnderin aufzudecken versucht. Ähnlich wie hier eben.

 

Das rationale Verhalten in diesem Spiel

Die Rationallösung dieses Spiels ist eigentlich, dass die Prüferin „mischt“, also zufällig mal hier und mal da prüft. Da es den Hersteller überall erwischen kann, macht er es genauso. Wenn die Kosten für das Erwischt-Werden hoch genug sind, dann mischt er nur noch ein klein wenig und macht es fast immer wie gewünscht.

In dem echten Prüfspiel zum Abgastest gibt es aber eine Besonderheit: Die Prüferin sagt vorher, wo sie prüfen wird. Das liegt daran, dass der Testzyklus „justiziabel“ sein muss und vorher in einer Norm genau beschrieben wurde. In dem obigen Spiel bedeutet das, dass die Prüferin schon vorher sagt, ob sie an Stelle A oder B prüfen wird. Nun hat das Diskoordinationsspiel aber einen ausgeprägten Second-Mover-Advantage, d.h. wenn sich ein Spieler vorher festlegt, was er tun wird, dann gibt dies dem anderen Spieler einen deutlichen Vorsprung. Wenn nur an Stelle A geprüft und dies auch noch angekündigt wird, dann optimiert der Hersteller natürlich auch nur die Stelle A.

Genau das hat VW getan. Es wurde angekündigt, wie geprüft wird, und VW optimiert für diese Prüfung. Das ist keineswegs neu. Diese sogenannte „Zyklenerkennung“ ist nicht nur völlig rational, sondern auch weit verbreitet. Sogar in diesem Fall war es durchaus schon vor dem Skandal bekannt. Schon in den 1980er Jahren wurden zum Beispiel Hifi-Verstärker so gebaut, dass sie den Ausgang komplett abschalten, solange kein Signal anliegt. Dann hört man kein Rauschen und es wirkt bei der normgerechten Messung so, als habe der Verstärker einen riesigen Rauschabstand, wie es dort so schön heißt. Natürlich ist das genauso ein Fake wie der Abgastest von VW, denn bei dem Hören echter Musik bricht der Rauschabstand sofort auf den ungefälschten Wert zusammen.

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass von der Stiftung Warentest hochgelobte Produkte oftmals im Alltag viel schlechter sind als die vermeintlichen Nieten? Das liegt unter anderem daran, dass besonders die großen Hersteller ziemlich genau wissen, wo die Messpunkte sind (was durchaus etwas übertragend gemeint ist) und einfach dagegen optimieren. Dann schneidet das Produkt im Test hervorragend ab und ist im Alltag trotzdem eine Zitrone. Ich habe zum Beispiel ein Pedelec, das bei der Stiftung Warentest ein „mangelhaft“ bekommen hat – aber im Alltag hält es seit zig Tausend Kilometern besser als alle Konkurrenzprodukte, die ich kenne. Es stammt von einem kleineren Hersteller aus der Schweiz (Biketec), der einfach gute Fahrräder bauen wollte und keine testoptimierten. Er ist nach dem Testurteil fast in die Pleite gerutscht, weil er das Spiel nicht rational gespielt hatte.

 

Wo ist jetzt doch gleich der Skandal?

Wieso sind wir nun auf einmal alle so schockiert von VW? Und wieso hat VW so etwas Verwerfliches getan? Tatsache ist, dass wir dieses Verhalten nicht  nur von etlichen anderen Stellen kennen, sondern es auch meist dulden. Deshalb bin ich auch sicher, dass der Skandal noch ganz andere Ausmaße annehmen wird und sich andere Hersteller (nicht nur von Autos) schon mal sehr warm anziehen können.

Aber dennoch, wieso empfinden wir den Fall von VW als Skandal? Das liegt an den neuen technischen Möglichkeiten und der Intelligenz, die heutzutage in den Fahrzeugen steckt. Bei einem rein mechanischen System (wie einem Fahrrad) kann man nur sehr begrenzt gegen einen bekanntgegebenen Prüfzyklus optimieren. In modernen Autos entsteht aber eine neue Qualität. Das Auto selbst wird so intelligent, dass es wie ein eigener Spieler auftritt. Wir müssen verstehen, dass ein Auto in der Lage ist, selbst rational mitzuspielen und eine Prüferin zu überlisten. Das ist es, was uns so schockiert. VW hat nicht qualitativ anders gehandelt als schon vorher üblich. Aber wo vorher die Komplexität einer Toilettenspülung war, ist nun auf einmal ein rational handelnder Spieler in Form einer künstlichen Intelligenz. Wir müssen verstehen, dass das Auto selbst ein Spieler in dem Spiel ist, das ich oben beschrieben habe. Das Auto ist intelligent und spielt mit.

Diese Erkenntnis wird uns in der nahen Zukunft noch oft beschäftigen, glauben Sie mir.

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Ja, aber…

Auf Twitter erreichen mich einige Gegenargumente und Hinweise:

Vorgabe ist ja erstmal nicht: Bestehe den Test am Prüfstand. Sondern: Halte die Gesetze ein.

Interessanterweise ist das nicht so – denn das Gesetz besagt nicht, dass ein Fahrzeug im Alltagsbetrieb bestimmte Abgaswerte erreichen muss, sondern dass es das in einem definierten Testzyklus tun muss. Und das wird ja erfüllt. Daher bin ich auch gespannt, was vor Gericht am Ende konstruiert wird, denn formal wurde überhaupt kein Gesetz gebrochen. Die Software mag nicht im Sinne des Gesetzes gewesen sein, aber zwischen legal und legitim gab es schon immer große Unterschiede.

Und die Prüferin in Vertretung des Staats ist kein Spieler, sondern macht die Regeln, ist quasi Spielleiter

Der „Staat“ hat die Regeln erlassen, nach denen jetzt gehandelt wird; dies sind die Spielregeln, durch die das obige Spiel entsteht. Innhalb dieses Spiels läuft das oben Beschriebene ab. Es war zu keinem Zeitpunkt vorgesehen, dass die Laborwerte mit den Realwerten auf der Straße verglichen werden. Das ist jetzt nur gewissermaßen aus Zufall geschehen (und mit so viel PR-Wirbel, dass VW sich nicht mehr einfach auf die jurstische Position zurückziehen kann, es habe den Test ja formal bestanden).

Dann ist die Börse aber ganz schön irrational, wenn sie rationales Verhalten mit -20% bestraft.

Das ist der sicherlich zutreffende Hinweis darauf, dass es ein umfassenderes Spiel gibt, nämlich das Reputationsspiel einer Marke. Keine Frage, dass in diesem großen Spiel VWs Verhalten ein Fehler war, zumindest rückblickend.

Würfelbeispiel widerspricht Ihrer VW-Argumentation: Das ist kein Spiel, sondern theoriefreier Betrug.

Dieser Kommentar bezieht sich auf diesen Beitrag in Bezug auf die Bombe im Handgepäck. Ich unterschreibe das trotzdem nicht, denn die VW-Vorgehensweise mag zwar Dienst nach Vorschrift sein, aber eben gerade kein Betrug. Übrigens ist auch in dem Würfelbeispiel bei der Bombe meine Aussage, dass wir bei einer Bombe im Flugzug nicht so tun dürfen, als sei das alles komplett zufällig, sondern dass auch dort denkdene Menschen handeln, sowohl auf Seiten der Terroristen als auch der Flughafensicherheit. Die bisherigen Testvorschriften im Automobilbau haben diesen Zusammenhang schlichtweg noch übersehen und vergessen, dass in ein Auto heutzutage echte künstliche Intelligenz eingebaut wird. Die muss man spieltheoretisch behandeln.

Einige andere Leser sehen ein ganz anderes großes Spiel:

Es hat mit Zufall nichts zu tun! Das ist mal ganz klar…

Alle Steuergeräte haben eine ECE Zykluserkennung implementiert, weshalb VW, weshalb in den USA, weshalb jetzt?

d Rache des ‚Pietsch,u d kleine Arschtritt sich nicht zusehr mit Putin wegen Syrien zu einigen!
Diese Gedanken zielen darauf ab, dass jemand die Situation bei VW absichtlich herbeigeführt hat, und zwar aus einem Eigeninteresse heraus. Da man denjenigen nicht kennt, wird die einfache Frage gestellt, wem es nützt. Das ist grundsätzlich sinnvoll, aber der Kreis der Profiteure ist groß. Es ist können die Grünen genauso sein wie Pietsch oder ein unerkannter interner Konkurrent. Ebenso ein Hersteller amerikanischer Diesel-Trucks für den Heimgebrauch. Dass der jetzige Skandal nicht so ganz zufällig hochgepoppt ist, dürfe außer Frage stehen, aber wer und wieso ist aus meiner Sicht derzeit völlig offen.

 

 

Wollen Sie mehr über Spieltheorie wissen?

Es ist üblich, dass ich am Ende meiner Beiträge auf mein Spieltheorie-Buch hinweise. Diesmal möchte ich Sie auch noch auf ein anderes Buch von mir hinweisen, das die Erkenntnis von eben auf die Finanzbranche anwendet: Können Roboter mit Geld umgehen? Hier beschreibe ich, wie weit die Roboter schon sind, um Menschen als Berater abzulösen. Wir werden uns noch umsehen, wie viel mehr die künstlichen Intelligenzen können und welche Auswirkungen das hat.

Und vergessen Sie nicht, mir auf Twitter zu folgen: @ProfRieck.

Und hier einen Kommentar zu hinterlassen…

 

4 Gedanken zu „VW-Abgas-Skandal: Das Auto ist ein rationaler Spieler

  1. Ach, jetzt fällt mir ein: Es gibt ja noch einen Mitspieler – die Konkurrenten. Es kann in solchen Situationen der Fall sein, dass man schummelt, weil man annimmt, dass entweder andere auch schummeln („Everybody does it“), oder b) dass man dazu gezwungen ist, weil man sonst der Konkurrenz unter liegt („ist zwar blöd, aber unsere einzige Chance“). Logisch, dass sich die Motive und die Überlegungen auf Entscheiderebene vermischen können: Vertrieb sagt, man habe sonst keine Chance. Techniker sagt , dass die Gefahr der Aufdeckung gering ist. Rechtsabteilung sagt, die Folgen wären wahrscheinlich nicht hoch. Aufsichtsrat sagt, du musst das USA nach vorn bringen, daran messen wir dich. Dein inneres Ich sagt dir, bis das auffliegt, bin ich in Pension. Da lässt man dann höchstens das technische Gutachten noch mal gegenchecken und dann sagt man: Okay, let’s do it. Gain und Loss stehen da in einem attraktiven „Chance-Risiko-Verhältnis“ …

  2. Es gibt ja noch weitere „Spieler“, nämlich a) die strafende Instanz b) die Autofahrer, c) die Öffentlichkeit. Der Schummler – und da haben Sie sicherlich Recht, dass jeder schummelt, wenn er glaubt, er könne damit höchstwahrscheinlich durchkommen – hat daher nicht nur die Wahrscheinlichkeit der Aufdeckung abzuwägen, sondern auch die mögliche Bestrafung. Da kommen Proportionalitäten ins Spiel: Lohnt das Risiko in Bezug auf den Nutzen? Es kann nun sein, dass man bei VW 2005 das Risiko niedrig ansetzte („wenn es auffällt, zahlen wir halt ein paar Tausender“). Inzwischen hat sich aber das Meinungsklima und die Struktur der Öffentlichkeit enorm gewandelt. Vielleicht würde heute das Risiko anders bewertet werdem? Da hat sich ja in den letzten Jahren viel getan. Die Unternehmen sind mit einem immer rigoroseren Moralismus konfrontiert. So beschäftigt sich der Aufsichtsrat und Vorstand heute mit zwei Risiken: a) Höhe der Straf- und Regresszahlungen, b) Höhe des Imageschadens. Rückblickend fassen sich jetzt alle an den Kopf und denken: Lieber Himmel, wie konnten wir ein so hohes Verlustrisiko eingehen ?! Damals schien man sich aber sicher genug im Verhältnis zur möglichen Poenalisierung. Wie auch immer, ich meine, das Spiel hat noch einen komplizierter Rahmen und die Ratio ist nur zu verstehen, wenn man von einer Unterbewertung des möglichen Schadenshöhe ausgeht. Das ist ähnlich wie bei Versicherungen, wo man sagt: Risiken, die man zur Not tragen kann, muss man nicht unbedingt versichern, z.B. Reisegepäc. Risiken, die zu groß sind, als dass man sie selbst tragen könnte, muss man versichern (z.B. Haftpflicht oder Wohngebäudeversicherung).

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