Auszahlungen als methodischer Individualismus

Spieltheorie ist Individualismus als Methode: sie geht als Grundprinzip konsequent vom Individuum aus.  Am Anfang jeder spieltheoretischen Analyse steht die Frage: Was will ein Spieler und was kann er? Daher tut die Spieltheorie so, als wisse jeder Spieler genau, wie gern er die verschiedenen Spielausgänge hat und als sei er darin auch völlig unabhängig von allen anderen Menschen. Aber wie sinnvoll ist es eigentlich, von solchen Insel-Menschen auszugehen? Oder macht die Spieltheorie hier schon bei den Grundprämissen einen Fehler, der alles weitere falsch werden lässt?

Sie sind durstig, sehen einen Kiosk, der Cola verkauft, schauen auf den Preis und denken: „Das ist doch Wucher! Nie und nimmer ist eine Cola so viel wert! Lieber verdurste ich, als dass ich eine Cola für 5 Euro kaufe!“

Wieviel ist eine Cola wert? Allein die Frage widerspricht den Grundvoraussetzungen der Spieltheorie. „Etwas wert sein“ unterstellt, dass es einen objektiven Maßstab für diesen Wert gibt. Das entspricht aber nicht dem individualistischen Ansatz der Spieltheorie, bei dem angenommen wird, jeder Spieler könne ausschließlich für sich selbst entscheiden, wie gut oder wie schlecht er die verschiedenen Spielausgänge findet, ohne dass diese Einschätzung auf andere Spieler übertragbar wäre. Diesem Ansatz zufolge sind auch die Zahlenwerte der Auszahlungen (der Nutzenwerte) willkürlich und nicht zwischen verschiedenen Spielern vergleichbar.[1]

Hier gibt es keinen „Wert“ – zumindest keinen, der zwischen verschiedenen Personen identisch sein müsste. Jeder einzelne Spieler kann sich fragen, wieviel ihm ein Gegenstand oder das Lächeln seiner Sitznachbarin wert ist. Der subjektive und nur für ihn gültige Wert wird dann ausgedrückt in dem Vergleich mit einem anderen Gut. Also zum Beispiel: Auf wieviele Stücke Kuchen bin ich bereit zu verzichten, um eine Cola zu trinken? Und weil Kuchen vielleicht nicht immer ein sinnvoller Maßstab ist: Auf wieviele Euros bin ich bereit zu verzichten, um eine Cola zu trinken? Und nur, um die Brücke zur Spieltheorie zu schlagen: Auf diese Weise kann jeder Spieler ausdrücken, wie gut er die einzelnen Spielausgänge im Vergleich findet. Wenn er weiß, wieviele Stücke Kuchen ihm eine Cola „wert“ ist, dann kann er zwei Spielausgänge miteinander vergleichen, bei denen er im einen Fall eine Cola und im anderen Fall ein Stück Kuchen bekommt. Und natürlich kann er sich im Spiel nur dann vernünftig entscheiden, wenn er weiß, wie gut oder schlecht er die verschiedenen Spielausgänge findet. Dies ist der Grund, weshalb in der Spieltheorie die Nutzentheorie so wichtig ist.

Damit das Ganze aufgeht, muss die Bewertung etwas sein, was der Spieler ganz allein entscheiden kann und auch muss. Nur er kann in sich hineinhören und sich fragen, wieviel ihm eine Cola wert ist. Das mag im Zeitablauf schwanken: Nach einer Fahrradtour ist die Wertschätzung vielleicht höher als nach einem Wasser-Wetttrinken. Aber die Wertschätzung sollte ausschließlich von ihm abhängen, nicht von der Wertschätzung Anderer. Wenn sich also Spieler Anton soeben gefragt hat, wie gern er eine Cola mag und zum Schluss gekommen ist, dass ihm jetzt und hier die Cola einen Nutzen spendet, der in Euro umgerechnet 3 Euro beträgt, dann sollte damit die Analyse für ihn beendet sein.

Wenn nun Berta um die Ecke kommt und ihn auslacht, weil sie findet, eine Cola sei nur, und zwar allerhöchstens, 1,50 Euro wert, dann sollte ihn das kalt lassen. Denn die 1,50 sind eben ihre Wertschätzung und nicht seine, und damit basta. So zumindest die Unterstellung in der Spieltheorie. Aber ist das eine sinnvolle Vorgehensweise?

Was ist, wenn er Berta ziemlich gern mag und nicht im ihrem Ansehen sinken möchte, nur weil er Cola lieber mag als rechtsdrehenden Trinkjoghurt? Diese Situation mag zwar psychologisch ein Drama sein, aus spieltheoretisch-methodischer Sicht ist sie aber weitgehend unproblematisch. Denn er bewertet ja jetzt nicht mehr die Cola allein, sondern eine Kombination aus Cola und Ansehen in Bertas Augen. Diese verbundene Bewertung mag zwar zu einem anderen Wert kommen als die Bewertung der Cola allein, aber immer noch kann Anton den Wert ganz allein bestimmen, indem er nur in sich hineinhört. Natürlich ist das nur möglich, wenn er alles weiß, was er zur Bewertung wissen muss, also zum Beispiel im verbundenen Fall, wie gut sein Ansehen bei Berta ist, wenn er Cola trinkt oder nicht. Aber es ändert nichts am methodischen Individualismus. Denn in die ganz individuelle Bewertung eines Spielausgangs kann durchaus mit einfließen, was Andere über diesen Spielausgang denken. Die Bewertung dieser Bewertung ist aber wieder individuell.

Auch muss man zur Bewertung alle Produkteigenschaften genau kennen. Angenommen, Anton hat bisher nur nach Geschmack geurteilt und dabei die Gesundheit von Cola als neutral angenommen, dann könnte es passieren, dass er nach einer ausführlicheren Darlegung von Berta (die Ernährungswissenschaften studiert hat) zu einer erneuten und diesmal anderen Bewertung gelangt als ohne die Aufklärung durch sie. Auch wenn ihm zu Beginn noch die Informationen fehlten um zu entscheiden, wie gesund oder ungesund Cola ist, dann das heißt immer noch nicht, dass wir methodisch etwas ändern müssten. Denn es ist natürlich, dass Anton eine Bewertung vornehmen muss, ohne alle Details zu kennen. Solange er nichts Genaueres weiß, muss er eben aufgrund seiner eigenen Einschätzung bewerten, nach einem Informationszugang kann er diese Bewertung durchaus ändern.

Dies zeigt, wieso Lotterien in der Spieltheorie eine so große Rolle spielen: Oftmals fehlt den Spielern eine bestimmte Information, aber sie wissen, was prinzipiell passieren könnte. Anton könnte zum Beispiel eine bestimmte Wahrscheinlichkeitsverteilung über die Gesundheit von Cola haben und auf dieser Basis bewerten. Das wäre dann im Resultat genauso wie wenn er eine Lotterie zu bewerten hätte, also eine Cola, bei der erst nach dem Trinken ausgelost wird, ob sie gesund oder ungesund ist. Wenn er das Ergebnis des Losens nicht sehen kann, dann ist es gleichgültig, ob vor oder nach dem Trinken ausgelost wird – er muss aufgrund der Wahrscheinlichkeiten entscheiden, nicht aufgrund des tatsächlichen Ergebnisses.

Es mag schwieriger sein, ein risikobehaftetes Ereignis (also eine Lotterie) zu bewerten als etwas, das mit Sicherheit eintritt. Vom Grundsatz hat sich aber nichts geändert – Anton bewertet ausschließlich, indem er in sich selbst hineinhört. Niemand anders kann ihm dies abnehmen, und niemand darf es ihm abnehmen. Dies ist der methodische Individualismus, der der Spieltheorie zugrunde liegt.

Ich weiß: Den Soziologen unter Ihnen wird gerade übel. Sie sagen zurecht, dass die persönlichen Einstellungen und Bewertungen eines Menschen doch nicht einfach aus dem luftleeren Raum entstehen, sondern dass man durch seine Umwelt geprägt und beeinflusst wird. Es ist ja schön, dass wir die Beeinflussung durch Berta so schön umwandeln konnten, dass doch wieder immer Anton völlig individualistisch entscheiden konnte. Aber das ändert doch nichts daran, dass Antons Einstellungen durch seine Umwelt geprägt sind, und er gesundheitliche Risiken zum Beispiel nur deshalb auf eine ganz bestimmte Weise berücksichtigt, weil dies Folge seiner Sozialisation ist. Wie kann man es da zu der Voraussetzung einer ganzen Theorie machen, dass jeder Mensch komplett unabhängig sei und in keinster Weise durch seine Mitmenschen beeinflusst wird? Ist das nicht eine geradezu absurde Grundvoraussetzung?

Ist es nicht. Denn es kommt darauf an, welchen Zeitpunkt man betrachtet. Gewiss gibt es im Leben eine Sozialisation, in der ein Mensch „lernt“, was er gut und was er schlecht findet. Vermutlich ist diese Phase nie abgeschlossen und vermutlich ändern wir ständig unseren Geschmack und unsere Einstellungen; zumindest ist es möglich, dass wir es tun. Und gewiss hängen diese Änderungen unseres Geschmacks oft von der Beeinflussung durch andere Menschen ab. Diese Beeinflussung kann durch das einfache Zusammenleben mit Anderen entstehen, ohne dass irgendwer die Absicht gehabt hätte, uns zu beeinflussen; und ebenso kann sie durch gezielte Beeinflussung entstehen, zum Beispiel durch Werbung oder durch „Aufklärungskampagnen“.

Das alles ändert aber nichts an der Tatsache, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Mensch eine ganz bestimmte Bewertung vornehmen kann und durchaus weiß, ob er jetzt lieber eine Cola oder lieber ein Wasser trinkt oder ob es ihm einfach egal ist. Wenn wir sein Verhalten in diesem einen Moment untersuchen wollen, dann kommt es überhaupt nicht mehr darauf an, ob er lieber Cola trinkt, weil die Werbung so gut war, weil alle seine Freunde es auch tun oder weil ihm Wasser einfach zu lappig schmeckt. Wichtig ist für diese eine Analyse nur noch, wie gern er Cola trinkt – die Herkunft dieser Einstellung ist hier nicht wichtig.

Sie mag es natürlich für eine andere Analyse sein. Wenn wir untersuchen wollen, welche Werbestrategie man verwenden sollte, damit ein Mensch gern Cola trinkt, oder wenn wir untersuchen wollen, wie man am besten Menschen vom Colatrinken abhält, dann solle man in der Tat die Nutzenwerte der zu beeinflussenden Menschen nicht als konstant voraussetzen. Wohl aber sind dann andere Einstellungen als konstant anzusehen, zum Beispiel die Einstellungen derjenigen, die die anderen vom Colatrinken abhalten wollen. Wieso betrachtet es jemand als einen positiven Spielausgang, wenn jemand anders keine Cola trinkt? Sicherlich, weil er diese Einstellung auf irgend einem Weg erworben hat, und möglicherweise waren an diesem Weg auch andere Personen als nur er allein beteiligt. Das alles ändert nichts daran, dass er jetzt eben genau diese Einschätzung hat.

Mit anderen Worten: Der methodische Individualismus der Spieltheorie ist keineswegs dazu verdammt, soziale Effekte zu vernachlässigen. Im Gegenteil: Diese Methode kann nicht nur die Folgen sozialer Effekte untersuchen, sondern sie kann ebensogut verwendet werden, um zu erklären, wie es zu bestimmten Einstellungen und sozialen Normen kommt. Aber eben alles zu seiner Zeit. Manchmal schwebt man gar nicht in solch hohen Regionen, sondern will einfach nur untersuchen, wie sich ein Spieler verhält (oder vernünftigerweise verhalten sollte), wenn er lieber Cola mag als Wasser, und zwar jetzt und hier.

[1]    Zugegeben, auch in der Spieltheorie geht das zwischen verschiedenen Autoren etwas durcheinander: Einige tun so, als seien die Auszahlungen der verschiedenen Spielausgänge in Geld zu bewerten und als sei allen Spielern das Geld gleich viel wert. In diesem Fall wären sogar Seitenzahlungen möglich, durch die ein Spieler einen Teil seiner eigenen Auszahlungen an einen Spieler abgeben kann. Aber stellen wir diese Interpretation zunächst einmal zurück und bleiben wir beim konsequent individualistischen Ansatz.

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