Version vom 20.09.2006
Erstversion vom Mai 2006
Ist Spieltheorie Sozialwissenschaft?
„Das ist doch keine Sozialwissenschaft!“ ist ein Ausruf, den ich mehr als einmal zu hören bekomme, wenn Sozialwissenschaftler/innen das erste Mal mit Spieltheorie in Berührung kommen. Sogar Wirtschaftswissenschaftler/innen betrachten die Spieltheorie oft als eine reine Randerscheinung getarnter Mathematiker. Grund genug, der Frage einmal nachzugehen: Ist Spieltheorie eigentlich überhaupt Sozialwissenschaft?
Sozialwissenschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass es um „menschliches Zusammenleben“ geht. Daher sollten wir einige Sekunden auf die Frage verwenden: Was passiert eigentlich, wenn Menschen zusammenleben? Der Unterschied zum Robinson-Crusoe-Leben besteht doch offenbar darin, dass man im Austausch mit anderen Menschen steht, dass man also nicht nur auf sich selbst zu blicken hat, sondern auch auf Andere. Und dass die Anderen auch auf die Anderen zu blicken haben, also auch auf einen selbst. Mindestens deshalb, weil deren Verhalten einen Einfluss darauf hat, was passiert, wenn man selbst etwas tut.
Oder etwas weniger abstrakt: Wenn Robinson Crusoe eine Kokosnuss knacken will, dann kommt es dabei ausschließlich auf seine eigenen Wünsche an. Schmecken ihm Kokosnüsse? Wie groß ist der Aufwand, sie zu ernten und zu knacken? Einen Strich durch die Rechnung machen kann ihm eigentlich nur die Natur, in der er lebt: Vielleicht ist die Nuss morgen nicht mehr genießbar? Oder von einer Flutwelle weggespült? Es ist offensichtlich, dass hier ein ganz wesentlicher Aspekt noch fehlt: der des Zusammenlebens mit anderen Menschen, also der gesellschaftliche Aspekt.
Das Gesellschaftliche (und damit das eigentlich „Soziale“) kommt erst hinzu, wenn andere Menschen auftauchen. Leider wird es dann auch schon schnell kompliziert. Denn jetzt kann nicht nur der Eine auf den Anderen reagieren, sondern der Andere auch auf den Einen. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur Natur: Die „handelt“ zwar auch, aber sie verfolgt keine eigenen Interessen und sie handelt nicht, weil sie befürchtet, der Mensch könne ihr zuvorkommen. [1]
Weil die gesellschaftlichen Fälle so kompliziert sind, denken viele Wissenschaftler gern über möglichst einfache Situationen nach – daher fangen wir ja so gern bei Robinson Crusoe an, fügen dann einen Freitag hinzu und verallgemeinern anschließend flink auf „unendlich“ viele Personen. Das ist sozialwissenschaftliche Forschung; nicht die einzige Form, aber eine Form.
Nun gibt es Menschen, denen es zu lang ist, dauernd Robinson Crusoe zu schreiben, und die ihn daher abkürzen als „Entscheider C“ oder kurz C. Es gibt Menschen, die sagen, dass die Frage ob er Kokosnüsse mag, doch letztlich die Frage ist, wie gern er denn Kokosnüsse hat, und ordnen einen Zahlenwert zu: wenn er größer null ist, dann mag er die Nüsse, wenn er kleiner null ist, dann nicht, und je größer die Zahl ist, desto stärker das Mögen oder Nichtmögen. Vielleicht schreiben sie diese Zahlen auch lieber in einer Tabelle auf, statt in einem Text. Einige nennen das jetzt Mathematik. Ist es das?
Natürlich ist das Mathematik. Aber sie beginnt nicht erst an der Stelle, an der wir Wörter durch Symbole ersetzen und Ausprägungen auf Skalen abbilden, sondern sie beginnt dort, wo wir systematisch denken. Und weil Menschen im systematischen Denken nicht sehr gut sind, beschränken wir uns oftmals zunächst auf einfache Fälle. Einige nennen das Metaphern, Andere nennen es mathematische Modelle – das Prinzip ist das gleiche. Aber nur weil es Mathematik ist, ist es noch lange nicht keine Sozialwissenschaft. Oder einfacher gesagt: Eine Theorie kann gleichzeitig Mathematik sein und Sozialwissenschaft. Denn Mathematik (zumindest die angewandte) ist eine Methode, Sozialwissenschaft ist ein Inhalt. Und daher gibt es natürlich mathematische Sozialwissenschaft, ebenso wie es nicht-mathematische Sozialwissenschaft gibt – exakt davon handelt der Methodenstreit der Sozialwissenschaften, in den wir aber – zumindest hier – nicht weiter einsteigen sollten. Aber nur soviel: Auch im Methodenstreit bezweifelt keine der Parteien die Zuordnung der jeweils anderen Methode zu den Sozialwissenschaften; der Streit geht lediglich um die Frage der Zweckmäßigkeit der unterschiedlichen Methoden.
Aber an dieser Stelle wird ein Punkt offenbar, der viele Sozialwissenschaftler tief in ihrem Herzen an der Spieltheorie stört: Es ist oft gar nicht die Methode als solche, sondern die Grundannahme, dass das Individuum zuerst existiert, und sich die Gemeinschaft erst aus den verschiedenen Individuen bildet. Die Spieltheorie beschäftigt sich also durchaus mit der Gemeinschaft, aber sie setzt sie nicht einfach voraus, sondern erklärt sie aus den Entscheidungen einzelner Individuen. Die Spieltheorie ist ein methodischer Individualismus. Und das ist etwas, was inhaltlich vielen Sozialwissenschaftlern missfällt. Aber ein Missfallen ist natürlich keinerlei Grund, es per Definition aus den Sozialwissenschaften auszuschließen.
Während wir, Sozialwissenschaftler die wir also sind, an Geschichten wie Robinson Crusoe herumtüfteln, stoßen wir zufällig auf eine mathematische Theorie, die vor mehreren Hundert Jahren begonnen wurde und eigentlich gar nichts mit unserem Problem zu tun hatte: der Theorie der Glückspiele (in deren Zusammenhang gern die Namen von Philosophen und Mathematikern fallen wie Blaise Pascal oder mehrere Mitglieder der Familie Bernoulli). Nach einiger Zeit erkennen wir, dass uns diese Theorie durchaus hilft, freuen uns darüber und wenden sie auf die Probleme unseres erfundenen Robinson an.
Besonders die Wirtschaftswissenschaftler waren mit dieser Verbindung sehr glücklich und und führten sie nun unter dem Namen „Entscheidungstheorie“ fort. Fortführen heißt: Sie nehmen die Methoden aus der Theorie der Glückspiele und wenden sie auf wirtschaftliche Situationen an. Der eigene Beitrag der Wirtschaftswissenschaftler sind nicht die Formeln der Mathematik, die ja schon einige Jahrhunderte alt waren, sondern die Interpretation und die Anwendung auf sozial- (oder sagen wir lieber: wirtschaftswissenschaftliche) Fragestellungen. Und dazu gehört auch, zunächst einmal zu verstehen, was diese mathematische Theorie eigentlich inhaltlich aussagt und sie für die eigenen Belange zu interpretieren – und das klingt ja schon sehr nach qualitativen Methoden der Sozialforschung. Zum Beispiel entstanden hier Konzepte wie die „subjektive Wahrscheinlichkeit“, die sicherlich nicht exakt das ist, was sich Mathematiker unter Wahrscheinlichkeit ursprünglich einmal vorgestellt hatten.
Nun haben Wirtschaftswissenschaftler die Tendenz, oft ein wenig zu kurz zu zielen, und daher murrten besonders die PolitologInnen und SoziologInnen über diese Entscheidungstheorie, denn eine Kleinigkeit fehlte ihr: die soziale Komponente. Es gab in der ganzen Theorie immer nur einen Entscheider im ansonsten gesellschaftsfreien Raum. Alle anderen Menschen versteckten sich in dem abstrakten Konzept der Umwelt, das seinerseits nur eine Interpretation des mathematischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs war.
Da kam es gerade zurecht, dass ein Mathematiker zu Beginn des vorigen Jahrhunderts an einer Theorie der Gesellschaftsspiele tüftelte, die – wie der Name ja schon sagt – eben das Gesellschaftliche mit behandelt. Nicht dass die Theorie sofort richtig für die Sozialwissenschaften verwendbar gewesen wäre, aber es gab auch gleich einen sozialwissenschaftlichen Denker, der das Potenzial der Theorie erkannte, sodass das erste Buch zu diesem Thema zwar noch den Namen Gesellschaftsspiele im Titel trug, aber inhaltlich bereits sozialwissenschaftliche Fragen behandelte. Und weil das Wort „Gesellschaftsspiele“ irgendwie zu lang ist, hieß es schon damals einfach nur „Spieltheorie„. Die beiden Autoren sind von Neumann und Morgenstern, das Buch ist Theory of Games and Economic Behavior (die deutsche Ausgabe Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten ist leider vergriffen).
Entstanden ist eine Theorie, die vom Individuum ausgeht (dem „Spieler„) und dann die Wechselwirkungen zwischen diesen einzelnen Individuen untersucht. Ist das Sozialwissenschaft? Nun, wieviel sozialwissenschaftlicher könnte es denn noch werden? Natürlich ist das Sozialwissenschaft. An dieser Tatsche ändert sich auch nichts dadurch, dass die Methode mathematischer wirkt als man es aus vielen anderen Bereichen der Sozialwissenschaften kennt.
Was natürlich nicht heißt, dass es die einzige Form der Sozialwissenschaft ist – aber eine ausgesprochen interessante. Und ich erlaube mir zu sagen, dass Sozialwissenschaftler, die sich aus Angst oder Vorurteilen gegenüber der Mathematik nicht auf diese Form einlassen, einiges verpassen.
Und falls Sie jetzt gleich loslegen und in die Spieltheorie einsteigen wollen, dann brauchen Sie mein Buch Spieltheorie – eine Einführung.
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[1] Wenn Sie jetzt sagen: „Hoppla! Die Natur kann sehr wohl zurückschlagen, wenn die Menschen sie zu sehr ausbeuten!“, dann nennen Sie damit einen Aspekt, der seit den 1980ern auch in der spieltheoretischen Forschung immer deutlicher geworden ist: dass nämlich in ökologischen Systemen vielfach sehr ähnliche Gesetze gelten wie in sozialen Systemen. Aber das ist eine andere Geschichte. Tun wir hier einmal so, als hätte unser Robinson keinen Einfluss auf das Verhalten der Natur – und sei es nur deshalb, weil sein Einfluss einfach zu gering ist.