Ist das Rad wirklich eine so gute Erfindung?

Wenn das Rad eine so tolle Sache ist, wieso hat es die Natur dann nicht schon lange vor uns erfunden?

Evolutionstheorie als Optimierungsverfahren

Die (biologische) Evolutionstheorie wird von Vielen als eine Art Optimierungsstrategie der Natur angesehen, die im Laufe der Zeit zu immer besser angepassten Lebewesen führt. In der Tat werden in der Technik und in der Wirtschaft vielfach Optimierungsverfahren eingesetzt, die von der Evolutionstheorie abgeschaut sind: Evolutionsstrategien und genetische Algorithmen.
Dies sind Verfahren, die auf intelligente Weise viele Möglichkeiten durchprobieren, um ein Optimum zu finden (oder zumindest etwas, was nah genug daran liegt). Wenn man zum Beispiel viele verschiedengroße Gegenstände in den Laderaum eines Flugzeugs hineinpacken möchte (was Fluggesellschaften durchaus öfters tun), dann stellt sich jedesmal die Frage, wie man die Gepäckstücke am besten verstaut, um den Raum optimal auszunutzen. Der Unterschied zwischen einer ungünstigen und einer optimierten Beladung kann riesig sein, und daher ist es für Fluggesellschaften extrem wichtig, hierfür gute Optimierungsverfahren zu besitzen. Ähnlich ist es bei der Routenplanung. Nicht nur Speditionen möchten möglichst schnell (oder möglichst billig) von A nach B kommen, auch Sie möchten das manchmal und freuen sich, wenn Ihr Navigationssystem oder ein Routenplaner im Internet einen guten Weg findet.

Leider überfordern diese vermeintlich einfachen Aufgaben jedes exakte mathematische Optimierungsverfahren. Löst man dagegen das Problem mit Verfahren, die sich an die biologische Evolution anlehnen, dann finden diese in kurzer Zeit sehr gute Lösungen. Oft zwar nicht das globale Optimum, sie sind aber meist sehr nah daran – nah genug für fast alle praktischen Aufgaben. Wie das genau funktioniert, werde ich in der Zukunft einmal an anderer Stelle erklären, hier sei nur verraten, dass es durch eine Kombination aus Zufallssuche und Belohnung für Verbesserungen funktioniert.

Wieso hat die Evolution dann nicht das Rad erfunden?

Wenn man nun die Evolution tatsächlich als Optimierungsverfahren versteht, dann kommt man zu einer bedrückenden Frage: Wieso hat die Evolution nirgendwo das Rad hervorgebracht? Es scheint nur zwei Antworten darauf zu geben: Entweder die Evolution ist doch nicht so gut darin zu optimieren. Oder das Rad ist doch nicht eine so gute Erfindung, wie wir immer denken.
So kniffelig diese Frage auf den Blick erscheint, so leicht lässt sie sich beantworten, wenn sich von der Fehlinterpretation der Evolution als Optimierung löst: Während bei den genannten technischen und wirtschaftlichen Optimierungen die Rahmenbedingungen von dem Optimierungsvorgang unabhängig und daher konstant sind, findet die Evolution nicht in einem unveränderlichen Rahmen statt. Denn die Evolution findet ja bei allen Lebewesen gleichzeitig statt, sodass für jedes einzelne Lebewesen alle anderen die Rahmenbedingungen darstellen, innerhalb derer „optimiert“ werden soll. Somit wird das Resultat einer biologischen Evolution sehr gut durch „Fixpunkte“ in diesem System aus Wechselwirkungen beschrieben – und dies ist genau das Konzept des Nash-Gleichgewichts, einem der wichtigsten spieltheoretischen Lösungsansätze.

Um zu verstehen, was das hier heißt, muss man sich nur überlegen, unter welchen Bedingungen das Rad eine gute Erfindung ist. Beschränken wir uns dafür der Einfachheit halber einmal auf das Rad als Bestandteil von Transportmitteln. Damit das Rad hier etwas Nützliches ist, muss es eine Infrastruktur geben, die die Vorzüge zur Geltung kommen lässt. Ohne Schiene oder Straße bringt das Rad nicht nur nichts, es ist sogar von Nachteil, wie jeder weiß, der einmal mit einem Auto durch Sand oder Urwald fahren wollte.

Wie entwickelt sich aber die Infrastruktur? In der biologischen Evolution hat kein Lebewesen einen Anreiz, für sich selbst oder für andere eine Straße zu bauen und diese zu warten. Denn der Bau und die Unterhaltung sind sehr aufwendig, bringen aber zunächst keinen Vorteil für denjenigen, der den Aufwand betreibt. Diese Kosten bringen erst dann etwas, wenn viele Individuen die Straße nutzen und dem Erbauer damit einen Vorteil verschaffen, zum Beispiel indem sie mit ihm Handel treiben. Wir sehen, dass dies schon sehr stark in Richtung Kultur (im Gegensatz zur Natur) geht. Das Besondere ist hier aber, dass offenbar beide Seiten voneinander abhängig sind: Radgebundener Verkehr lohnt sich, wenn die Infrastruktur dafür bereit steht; diese bereitzustellen lohnt sich, wenn es viel radgebundenen Verkehr gibt.

Straßenverkehr als Koordinationsspiel

Dies ist nun aber exakt die Situation der Schelling-Koordination. Die Beteiligten können sich entweder auf radgebundenen Verkehr zusammen mit aufwendiger Infrastruktur koordinieren oder auf beingebundenen Verkehr ohne erforderliche Infrastruktur. Beides ist ein Gleichgewicht im spieltheoretischen Sinn, das heißt es lohnt sich für keine der Parteien im Alleingang von dem Gleichgewichtszustand abzuweichen.
Die Koordination auf radgebundnen Verkehr entsteht aber in einem verteilten System viel schwieriger. Denn die Infrastrukturanstrengungen bringen nicht sofort einen Erfolg, sondern erst mit langer Zeitverzögerung bzw. erst dann, wenn eine bestimmte kritische Masse erreicht wird. Das ist eine Voraussetzung, die man in sozialen Systemen oft erreichen kann, in natürlichen Systemen ist das aber ungleich schwieriger.

Mit anderen Worten: die Evolution führt nicht zu einem „Optimum“, sondern zu einem Gleichgewicht. Und die an der Evolution beteiligten Lebewesen spielen eben das Gleichgewicht ohne Räder.

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