Kipppunkte in der Spieltheorie und in der Klimaforschung

Kipppunkte

Christian Rieck

Version vom 24.08.19;
Erstversion vom 24.08.19

Klimaforscher lieben Alarmismus und haben einen neuen Pfeil im Köcher: die Kipppunkte. Dies sind Punkte, an denen sich das Klima plötzlich ganz anders verhält als zuvor. Interessanterweise gibt es diese Kippunkte auch in den Wirtschaftswissenschaften und spielen dort eine wichtige Rolle. Deshalb kommt hier eine kurze Erklärung, was diese Kipppunkte genau sind und ob sie Grund zur Sorge sind.

 

Wir sind es gewohnt, dass sich Systeme im Gleichgewicht befinden. So sehr, dass wir ein Gleichgewicht meist gar nicht mehr als solches wahrnehmen. Das liegt einfach daran, dass jedes Nicht-Gleichgewicht versucht, so schnell wie möglich in ein Gleichgewicht überzugehen. Deshalb wirkt die Welt um uns herum sehr geordnet und stabil.

Die Erde rast nicht chaotisch auf die Sonne zu und dann wieder von ihr weg, Finanzmärkte schwanken nicht täglich um Zehnerpotenzen und das Wetter wechselt nicht täglich von Frost auf Bruthitze. Bei den meisten Dingen, die uns umgeben, können wir uns sogar darauf verlassen, dass kleine Störungen von dem betroffenen System abgefedert werden. Wenn wir versehentlich gegen einen Stuhl stoßen, dann fällt er meistens nicht gleich um, sondern wackelt nur ein wenig, um dann etwas verrutscht wieder in einem wundervollen Gleichgewicht stehen zu bleiben.

Sehr oft gibt es neben dem altbekannten Gleichgewicht aber noch ein anderes. Wie wir alle wissen, kann der Stuhl tatsächlich umfallen, wenn wir ihn zu stark anstoßen. Er ist dann kurz in einem Ungleichgewichtszustand, aber sobald er liegt, befindet er sich wieder in einem Gleichgewicht, allerdings einem anderen als zuvor.

Dieses zweite Gleichgewicht ist eines, an das wir normalerweise nicht denken, und wenn wir es doch tun, es lieber vermeiden würden. Es ist der umgefallene Stuhl, die zusammengebrochene Währung oder die Finanzmarktkrise.

Interessant ist nun die Phase zwischen den beiden Gleichgewichten. Dort liegt der Bereich der Ungleichgewichte, die von ihrer Natur her immer vorübergehende Zustände sind. Denn ein Ungleichgewicht ist definiert als ein Zustand, der sich aus sich selbst heraus zerstört. Ein System im Ungleichgewicht ist immer bestrebt, wieder in ein Gleichgewicht zu gelangen. Jedes der möglichen Gleichgewichte hat dabei einen Stabilitätsbereich, also einen, innerhalb dessen das System zu dem einen oder anderen hinwandern wird.

Bleiben wir beim kippelnden Stuhl. Wenn wir ihn nur schwach anstoßen, kippt er zwar zunächst, überlegt es sich dann aber anders und fällt wieder in die Ausgangslage zurück. Überschreitet man aber einen bestimmten Punkt im Ungleichgewichtsbereich, dann gibt es kein Zurück mehr: Der Stuhl fällt um und landet in seinem zweiten Gleichgewicht, dem liegenden.

Dieser Punkt, den man nicht überschreiten darf, ist der Kipppunkt. Es heißt deshalb so, weil genau dort das System kippt und nicht mehr – wie sonst gewohnt – in sein altes Gleichgewicht zurückfindet. Dieses Verhalten des Systems ist nicht nur ungewohnt, sondern meist auch irgendwo zwischen befremdlich und tödlich. Denn wo sich die Welt vorher sehr gutmütig und berechenbar verhalten hat, springt sie nun auf einmal in ein ganz anderes, ungewohntes Verhalten. Innerhalb des Stabilitätsbereichs eines Gleichgewichts erscheint alles schön linear und stabil – nach Überschreiten des Kipppunktes ist nichts mehr, wie es einmal war. Der Kipppunkt markiert eine Grenze, ab der sich das altbekannte System schlagartig qualitativ anders verhält als vorher.

<Wenn Sie chinesische Weisheiten mögen: Das chinesische Strategem 01 heißt „Täusche den Kaiser, um das Meer  zu überqueren“ und basiert auf diesen Kipppunkten. Sehen Sie hier mein Video zu dem Kipppunkt-Strategem.>

Es wird den Wirtschaftswissenschaftlern oft vorgeworfen, dass sie die Finanzkrise nicht vorhergesagt hätten. Das stimmt so aber nicht. Sondern diese Art von Krise ist ein zweites Gleichgewicht in einem System, das sich normalerweise in einem gewohnten Gleichgewicht befindet. Es war in der Wirtschaftstheorie durchaus bekannt, dass es dieses Krisengleichgewicht gibt – nur kann man nicht vorhersagen, wann das System in eben dieses kippt.

In der gleichen Situation befindet sich zur Zeit die Klimaforschung, denn auch beim Klima gibt es Kipppunkte. Einmal angenommen, es würde aus irgendwelchen Gründen ein Großteil der Erdoberfläche zugeschneit und in dem folgenden Sommer nicht wegtauen (zum Beispiel, weil ein riesiger Vulkan ausbricht und die Sonneneinstrahlung für einige Monate stark abgemindert wird). Dann könnte es gut passieren, dass selbst nach dem Wegfall der Vulkanasche die weiße Schneeoberfläche so viel der Sonneneinstrahlung reflektiert, dass sie sich nicht richtig erwärmt, sodass auch im zweiten Sommer die Schneefläche bestehen bleibt – und so weiter. Das Klima könnte dadurch in eine Eiszeit kippen.

Es geht auch anders herum. Ein höherer CO2-Gehalt in der Atmosphäre könnte zu einer Erwärmung führen, die ihrerseits noch mehr CO2 freisetzt usw. Solange, bis das Klima ein völlig anderes ist als zuvor. Wie beim kippenden Stuhl kann es passieren, dass sich das System nicht mehr wie gewohnt selbst korrigiert und ins alte Gleichgewicht zurückfindet, sondern dass es bei einer vermeintlich minimalen Änderung der Bedingungen ein ganz anderes Verhalten annimmt. Dass es einen solchen Punkt gibt, ist in der Klimaforschung ebenso bekannt wie die Möglichkeit der Finanzkrise in den Wirtschaftswissenschaften. Nicht bekannt ist aber, wo genau dieser Kipppunkt liegt.

Es ist mir bewusst, dass die Klimaforscher wenig getan haben, um uns Vertrauen in ihre Forschung zu vermitteln. Das liegt zu gewissem Grad dran, dass sie das gegenteilige Problem der Wirtschaftswissenschaftler haben: Während es in der Wirtschaft verpönt war, von der möglichen Krise jenseits des Kipppunktes zu sprechen, so ist es in der Klimaforschung geradezu ein Muss, ständig von ihr zu sprechen. Ich bin kein Klimaforscher und halte mich aus der Diskussion um die genaue Lage des Kipppunktes lieber heraus. Vielleicht sind wir so nah daran, dass wir ihn schon in wenigen Jahren erreichen, vielleicht sind wir aber auch so weit weg, dass wir ihn nie erreichen, weil die Freisetzung von CO2 schon lange vorher aus der Mode kommt und wir alle Energie aus Fusionskraftwerken oder hocheffizienten Solarkollektoren beziehen.

Aber es ist mir wichtig zu vermitteln, dass die Kipppunkte kein neuer Marketinggag einer Klimareligion sind, sondern ein völlig realer Sachverhalt. Ihre Existenz ist auch der Grund dafür, dass viele der modellorientierten Klimaforscher tatsächlich subjektiv außerordentlich besorgt sind – denn auch sie wissen nicht, wie nah wir am Kipppunkt sind. Was eine gute oder eine schlechte Nachricht sein kann.

 

Wollen Sie mehr über Spieltheorie wissen?

Ok, dann kommen Sie nicht darum herum, nun endlich mein Spieltheorie-Buch zu kaufen.

Und vergessen Sie nicht, mir auf Twitter zu folgen: @ProfRieck.